F. Slaveski: Remaking Ukraine after World War II

Cover
Titel
Remaking Ukraine after World War II. The Clash of Local and Central Soviet Power


Autor(en)
Slaveski, Filip
Erschienen
Anzahl Seiten
XV, 206 S.
Preis
£ 75.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietrich Beyrau, Institut für osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Universität Tübingen

Filip Slaveski, australischer Historiker an der Deakin University, Melbourne/Geelong, hat 2013 eine Monographie über die sowjetische Besatzung in Deutschland von 1945 bis 1947 vorgelegt.1 Jetzt folgt eine ebenfalls ganz auf Archivalien und einige Interviews gestützte Lokalstudie über das Gebiet (oblast) Kiev. An einem lokalen Beispiel werden die Praktiken und Dysfunktionen der ländlichen Verwaltung im späten Stalinsystem vorgestellt. Das letzte – 5. – Kapitel liefert einen knappen Überblick über die Jahrzehnte seit 1950. Im Mittelpunkt der Darstellung steht hier allerdings die Erinnerungspolitik in der westlichen und mittleren Ukraine, lose anknüpfend an die Kriegserfahrungen der Kolchosbauern vor allem von Raska. Ob damit das titelgebende „remaking Ukraine“ gemeint ist, wird nicht weiter ausgeführt.

Raska, ein ethnisch polnisches Dorf, wurde im Krieg von den deutschen Besatzern mit Hilfe ukrainischer Kollaborateure völlig zerstört, und alle seine Bewohner wurden ermordet. Nach der Befreiung bauten Rückkehrer, wohl zumeist Veteranen der Roten Armee, das Dorf wieder auf. Aber ähnlich wie am Stadtrand von Bila Cerkva war die Rayon-Verwaltung, gedeckt von derjenigen des Gebiets Kiev, nicht am Wiederaufbau der Kolchosen interessiert. Dies ging so weit, dass den Kolchosen Aufbaumaterial entzogen, Gebäude zerstört und Kredite vorenthalten wurden. Die lokalen Instanzen waren nur an der Nutzung der Ländereien als „Nebenwirtschaft“ (podsobnye chozjajstva), also an einer Landnutzung zur Selbstversorgung der lokalen Bevölkerung des Umlandes interessiert, nicht an Kolchosen, die ihre Überschüsse an zentralstaatliche Stellen abzuliefern hatten. Die Nebenwirtschaften konzentrierten sich im Wesentlichen auf den Anbau von Gemüse und Obst.

Die im Krieg aus der Not geborene Politik der Fremdnutzung von Kolchosland hatte die Ernährung der lokalen Bevölkerung mehr oder weniger gesichert. Sie widersprach aber sowohl den Interessen der Kolchosbauern am Erhalt ihrer Ländereien als auch dem übergeordneten zentralstaatlichen Interesse an möglichst hohen Ablieferungsnormen. Zu diesem Zweck sollten 1946 nicht nur der Umfang der von den Kolchosbauern für den eigenen Haushalt genutzte Boden reduziert, sondern auch die von den Rayonverwaltungen gedeckten faktischen Enteignungen oder die Fremdnutzung von Kolchosland rückgängig gemacht werden. Die Interessen des Staates (und der Kolchosbauern) widersprachen mithin denen der lokalen städtischen und industriellen Bevölkerung und ihrer Vertreter. Die Darstellung widmet sich in den folgenden vier Kapiteln den sich über Jahre hinziehenden Auseinandersetzungen zwischen den Kolchosbauern auf der einen, den lokalen Instanzen von Partei und Verwaltung auf der anderen Seite und schließlich den Repräsentanten auf der Ebene der Republik oder gar Moskaus, vertreten durch einen Kolchosrat des Gebiets von Kiev. Er setzte sich vergeblich für die Kolchosen und gegen die lokalen Instanzen ein.

Die übergeordnete Problemstellung in den ersten vier Kapiteln geht recht unübersichtlich einer Frage nach, die der Verfasser unter den Begriff der Korruption fasst: die lokalen Instanzen, an der Versorgung der Bevölkerung der Städte und Industrie (und nicht zuletzt an den eigenen Privilegien) interessiert, konnten angesichts der äußerst knappen Ressourcen nach dem Krieg und der Hungersnot von 1946/47 von der politischen Führung in Kiev und Moskau nicht wirklich kontrolliert werden. Sie unterliefen alle Kampagnen und wichen der Bestrafung von Kadern durch ihre rechtzeitige Versetzung aus. Nur „fiktive Kolchosbauern“ (mnimye kolchozniki), an denen sie nicht interessiert waren, litten unter den staatlichen Repressalien. Im Zentrum der Darstellung stehen die Manöver der lokalen Instanzen, staatliche Vorgaben zu unterlaufen – in der Regel auf Kosten der Kolchosbauern. Eine Entspannung der Situation zeigte sich vor allem für die Kolchosen am Stadtrand von Bila Cerkva erst in den 1960er-Jahren durch Zusammenlegung von Kolchosen oder ihre Umwandlung in Sovchosen (staatliche Landwirtschaftsbetriebe). Sie überlebten sogar den Umbruch von 1991, während der Kolchos von Raska, zusammengelegt mit einem benachbarten Kolchos, die Wende nach 1991 nicht überstand.

Die ethnisch polnischen Einwohner von Raska bilden den Anlass, im 5. Kapitel ausführlich auf die öffentlichen Kontroversen im Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg in der Ukraine einzugehen. Einwohner des in den 1930er-Jahren vergleichsweise wohlhabenden Kolchos waren auch Opfer des Terrors gegen die polnische Minderheit im Jahre 1937 geworden. Entscheidend für die Erinnerungskultur war allerdings der Massenmord von 1943 durch die deutschen Besatzer, dem alle vor Ort befindlichen Einwohner zum Opfer gefallen waren. Im Kampf um den Erhalt und Aufbau des Kolchos nutzte ihr Sprecher den Einsatz der zurückgekehrten Veteranen der Roten Armee als „Ressource“, um die Belange des Kolchos gegen das lokale Exekutivkomitee des Rayons zu verteidigen. Dessen Vertretern warfen sie zudem die Protektion von Kollaborateuren vor. Dies blieb aber ohne Folgen, was einmal mehr die Macht lokaler Instanzen belegt.

In den 1960er-Jahren war der Kolchos in Raska mit einem anderen zusammengelegt worden, dessen Bewohner im Krieg offenbar mit der UPA (der Ukrainischen Aufstandsarmee) sympathisiert hatten und nach der Wende den UPA-Kämpfern ein Denkmal errichteten, also den einstigen Feinden der Polen. Im Unterschied zu den Kontroversen in den Medien über die Rolle der UPA und der OUN (Organisation Ukrainischer Nationalisten) während des Krieges und danach wurde zwischen den ländlichen Gemeinschaften nach der Wende eine Art Stillhalteabkommen geschlossen. Zu den jeweiligen Feiern im Gedenken an die Opfer besuchte man sich gegenseitig. Dies kontrastiert Slaveski mit den oft unversöhnlichen Auseinandersetzungen in den Medien über die „Befreiungsmission“ der Roten Armee oder den „nationalen Kampf“ der UPA und OUN. Hier wird aber nur wiederholt, was aus der Literatur hinreichend bekannt ist.

Die intensiven Recherchen für eine Lokalstudie über die Machtverhältnisse und die Ohnmacht sowohl der zentralen Instanzen als auch der Kolchosbauern sind originell und geben wichtige Einblicke in das Funktionieren der Bürokratie unter Stalin nach dem Krieg. Der Autor fasst diese Verhältnisse zumeist unter den Begriff von Korruption. Gemeint ist damit einerseits das Unterlaufen zentralstaatlicher, oft durchaus widersinniger Vorgaben, andererseits die Durchsetzung lokaler Interessen, immer verbunden mit der Behauptung oder Erweiterung eigener Vorteile für die Kader auf Kosten der Kolchosbauern und oft genug auch auf Kosten der Nebenwirtschaften nutzenden Städter und Fabrikarbeiter. Erst im letzten Kapitel geht er auf den Druck „von oben“ ein, dem die lokalen Behörden oft genug ausgesetzt und findig genug waren, ihm auszuweichen.

So wichtig und erhellend die Darstellung zum Verständnis der Dysfunktionen des späten Stalinregimes ist, so leidet sie allerdings unter den wenig strukturierten Ausführungen, denen oft nur schwer zu folgen ist.

Anmerkung:
1 Filip Slaveski, The Soviet Occupation of Germany. Hunger, Mass Violence and the Struggle for Peace, 1945–1947, Cambridge 2013.

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